In seinem Schwetzinger Klavierabend von 1962 bestätigte Wilhelm Kempff sein einzigartiges Vermögen, forschendes und träumerisches Klavierspiel mit einem weiten Repertoireradius zu verbinden und in allen stilistischen Fragen deutlich abzustufen. Dabei folgte er bei dieser Gelegenheit keinesfalls einer programmatischen Saison- und Karriereroutine, wie sie etwa in einer risikolosen und von den Veranstaltern auch bevorzugten Zusammenstellung von Werken Mozarts, Beethovens und Schuberts üblich gewesen wäre. Überraschend, selbst für Kenner Kempffs als Interpret umfangreicher Teile des Klavierrepertoires, dürfte der Beginn der Darbietungsfolge sein: Selten zu hörende, von den meisten praktizierenden Solisten, von den Klavierpädagogen – und in deren Windschatten auch von den Studenten – beinahe vergessene Miniaturen von Jean Philippe Rameau und François Couperin zeigten den Klangakrobaten und Farbenmystiker Kempff auf französischem Territorium. Über ein ebenfalls nicht häufig zu hörendes Händel-Menuett und ein Mozart zugeschriebenes Pastoralstück tastete sich der Virtuose dann zu Beethoven und Schubert vor – Namen, die man schon eher mit Kempff in Verbindung bringt, von denen er aber für seinen Schwetzinger Abend ebenfalls Werke auswählte, die durchaus bis heute nicht zum Standardrepertoire gehören. Vor allem Beethovens charmante Klaviersonate Nr. 22 F-Dur op. 54 wurde unter Kempffs Händen zu einem Erlebnis und zeigte, welches Potenzial in diesem häufig übersehenen Kleinod schlummert.